Viele neue Pflichten

Das Jahrhundertthema Nachhaltigkeit und die zunehmende Regulierung in diesem Bereich sorgen auch für neue Pflichten im Versicherungsvertrieb. ­Unter anderem müssen seit Anfang August die Nachhaltigkeitspräferenzen der Kunden abgefragt werden. Wie Sie dabei vorgehen könnten, lesen Sie hier

Text Timo Biskop

Da die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen neu (und komplex) ist, besteht ein besonderer Aufklärungsbedarf gegenüber den Kunden. Versicherungsvermittler sind daher gefordert, Kunden in klarer, prägnanter, verständlicher und nicht irreführender Sprache über Nachhaltigkeitsaspekte zu informieren – und die (Erst-)Aufklärung vor der Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen vorzunehmen.

Je nach Beratungsanlass, Vorkenntnissen und individuellen Eigenschaften des Kunden entsteht ein unterschiedlich ausgeprägter Aufklärungsbedarf: Es wäre zum Beispiel denkbar, zunächst die Begriffe der Nachhaltigkeit einzuordnen, gefolgt von einer inhaltlichen Überleitung zu den verständlich aufbereiteten Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, kurz SDGs), dem Pariser Klimaschutzabkommen, dem European Green Deal und dem ESG-Akronym (Environment, Social, Governance – zu Deutsch: Umwelt, Soziales, Unternehmensführung). 

Eine solche Herleitung ­soll­te die Grundvorausset­zung für eine sachliche ­Dis­­kus­sion legen. Hierauf aufbauend könnte dem Kunden erläutert werden, wie die Versicherungswirtschaft Nachhaltigkeitsfaktoren adressiert (Investor/Risikoträger/Betrieb). 

Im Ergebnis der Erstaufklärung sollte dem Kunden jedenfalls ein Verständnis dafür entstehen, dass seine Produkt­auswahl Nachhaltig­keits­zielen nachkommen kann, die Transformation der Wirtschaft und das Angebot nachhaltiger Versicherungsprodukte jedoch erst begonnen haben und sich der Markt für Versicherungsschutz noch entwickeln wird. 

Ferner sollte dem Kunden deutlich werden, dass es noch keine (produktseitigen) Marktstandards gibt und die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsfaktoren bei Versicherungsprodukten bis auf Weiteres Einzelfallprüfungen erfordert.

Vier Entscheidungen sind abzufragen

Zur Bestimmung etwaiger Nachhaltigkeitsziele und -wünsche des Kunden ist diskutabel, welche Informationen notwendig und sinnvoll sind, zumal keine konkreten gesetzlichen Vorgaben existieren. Das Hauptziel der Nachhaltigkeitspräferenzabfrage und der Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in den Beratungsprozess liegt – neben der Auswahl geeigneter Produkte – in der Vermeidung von Interessenkonflikten, Falschberatung und fälschlicher Produktpräsentation, also Greenwashing im weiteren Sinne. Der Kunde soll sachverständig zu Protokoll geben, ob und welche Nachhaltigkeitspräferenzen er bei der Produktempfehlung berücksichtigt wissen möchte.

Hierzu sind wenigstens vier Entscheidungen abzufra­gen, die – in Summe – die Nach­haltigkeitspräferenz des Kunden konstituieren, nämlich erstens, ob der Kunde nachhaltigkeitsbezogene Investments berücksichtigen möchte, zweitens, welche thematischen Schwerpunkte beziehungsweise Nachhaltigkeitsziele (besonders) relevant sind, drittens, welche „Nachhaltigkeits-Kategorien“ der Investments berücksichtigt werden sollen und, viertens, welche Anteile der verschiedenen Kategorien am Gesamtportfolio gewünscht werden.

Vorschlag einer Abfragelogik

Die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen sollte eine Hinführung beinhalten, die der notwendigen (Erst-)Aufklärung entspricht. Denkbar ist aber auch, dass der Kunde dar­auf verzichten möchte, zum Beispiel, wenn er das Thema Nachhaltigkeit ablehnt. Auch zu Dokumentationszwecken sollte die Abfragelogik daher mit einem Hinweis auf die erfolgte oder – auf Kundenwunsch nicht erfolgte – (Erst-)Aufklärung beginnen (eine Zusammenfassung der Abfragelogik finden Sie auf Seite 33).

Im engeren Sinne startet die Nachhaltigkeitspräferenzabfrage dann mit der kundenseitigen Information darüber, ob Nachhaltigkeitsaspekte in der Beratung berücksichtigt werden sollen. Eine entsprechende Entscheidungsfrage kann etwa so formuliert sein: „Möchten Sie Nachhaltigkeitsaspekte bei Ihrer Produktauswahl berücksichtigen?“ Wird die Frage verneint, endet die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen. Wird die Frage bejaht, schließen sich Folgefragen an.

Im Ergebnis der (Erst-)Aufklärung sollte der Kunde in der Lage sein, eine Auskunft darüber zu geben, ob er thematische Schwerpunkte im Sinne der Förderung von Umwelt- oder sozialen Zielen setzen möchte oder nicht. Die Folgefrage könnte also lauten: „Möchten Sie einen Beitrag zu Umwelt- oder sozialen Zielen priorisieren oder keine Schwerpunkte setzen?“ Die Antwortmöglichkeiten wären etwa „Schwerpunktwunsch auf einen Beitrag zu Umweltzielen“ oder „Schwerpunktwunsch auf einen Beitrag zu sozialen Zielen“ oder auch „Kein Schwerpunktwunsch“. 

Die Frage nach der gewünschten Qualität von Nachhaltigkeitsaspekten sollte unmittelbar im Anschluss erfolgen, etwa so: „Finanzprodukte können Nachhaltigkeitsziele in unterschiedlicher Art und Weise berücksichtigen; im Speziellen existieren explizite Standards der Europäischen Union: Wie möchten Sie Ihre Nachhaltigkeitsziele mithilfe der Geldanlage verfolgen?“ Dementsprechend wären die Antwortmöglichkeiten zunächst auf die Optio­nen (a) nachhaltige Investi­tion und (b) Berücksichtigung der wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren (sogenannte Principal Adverse Impacts, kurz PAI) zu beziehen. Im Falle der Auswahl von Option „b“ ist dann festzulegen, in welcher Art und Weise welche PAI-Faktoren berücksichtigt werden sollen. 

Möchte der Kunde einen (wesentlichen) Beitrag zu Nachhaltigkeitszielen leisten, stellt sich die Frage nach dem jeweiligen Mindestanteil am Gesamtportfolio. Er kann etwa als frei wählbarer Prozentsatz oder in Form vorgegebener Skalenwerte abgefragt werden. Je nach vorlaufender Antwort ergeben sich somit auch an dieser Stelle divergierende Frage- und Antwortoptionen, etwa: „Welchen Mindestanteil nachhaltiger Investments gemäß EU-Klassifikationssystem (,Taxonomie‘) soll die Anlage ausweisen?“ oder „Welchen Mindestanteil nachhaltiger Investments, die nicht dem EU-Klassifikationssystem (,Taxonomie‘) entsprechen müssen, soll die Anlage ausweisen?“

Ratsam ist es, dem ­Kunden standardisierte Aus­wahl­op­tio­­nen vorzugeben, verbunden mit einer – gegebenenfalls erneuten – Aufklärung zu den Herausforde­rungen des Angebots nach­haltiger Investments. Konkret könnte die Mindestanteil-Abfrage für nachhaltige Investitionen die Stufen 5, 10, 20, 30, 40 oder 50 Prozent vorsehen, ergänzt um ein Freifeld für einen „sonstigen Anteil“.

Falls der Kunde sich für die Kategorie „Berücksichtigung der wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren“ entscheidet, sind sowohl die vom Kunden gewünschten qualitativen und quantitativen Elemente als auch die relevanten Nachhaltigkeitsfaktoren zu erfragen. Bezüglich der Art und Weise der gewünschten Berücksichtigung könnten ein Best-in-Class-Ansatz, die Ausübung von Stimmrechten oder Engagement-Strategien, aber auch die Anwendung von Ausschlusskriterien gewählt werden. Die korrespondierenden Fragen könnten wie folgt formuliert werden: „Wie möchten Sie die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsziele berücksichtigen?“ oder „Welche Kategorien nachteiliger Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsziele möchten Sie gegebenenfalls explizit berücksichtigen?“

Übertragbar auf andere Versicherungsprodukte

Für die Beratung sonstiger Versicherungsprodukte existiert keine Vorgabe zu Nachhaltigkeitspräferenzen oder deren Bestandteilen. Unterschiedliche Versicherungsarten bieten auch verschiedene Ansatzpunkte zur Einbindung oder Förderung von Nachhaltigkeitsfaktoren. Eine sparten-übergreifende Abfragelogik wird insofern – und Stand heute – nur auf hohem Aggregationsniveau standardisiert sein können; die Art und Weise sowie der Inhalt der Beratung werden sich im Einzelfall ergeben (müssen).

Dennoch können die notwendige (Erst-)Aufklärung und die Grundsatzfrage zur Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten zweifels­frei auch auf die Beratung sonstiger Versicherungsprodukte übertragen werden. Ebenso ist eine thematische Schwerpunktsetzung als unkritisch zu bewerten. 

Wenn die Nachhaltigkeits­ziele und -wünsche des Kunden identifiziert sind, müssen der Markt ­beziehungsweise das verfügbare Produktange­bot auf geeignete Produk­te untersucht ­werden („Phase 1“). Die dann auch Nachhaltigkeitsfaktoren ad­ressieren, die mit den Wünschen des Kunden im Einklang sind („Phase 2“) – dazu können beispielsweise CO₂-Kompensationsmecha-nismen, die Incentivierung nachhaltigen Verhaltens oder entsprechende Ansatzpunkte im Schaden-/Leistungsmanagement, inklusive Prä­ven­tions­angebote, zählen.

Was bei der laufenden Betreuung zu beachten ist

Im Zuge der laufenden Beratung ist zu überprüfen, ob die Versicherungsprodukte des Kunden den Nachhaltigkeitspräferenzen weiter entsprechen. Es entsteht Beratungs- und gegebenenfalls Handlungsbedarf, wenn erkennbar ist, dass der Kunde seine Einstellung zum Thema Nachhaltigkeit verändert hat oder die Produkte die beworbenen Nachhaltigkeitsmerkmale nicht wie vorvertraglich dargestellt erfüllen. 

Fraglich ist dabei, wann und in welchem Umfang ein Beratungsanlass ausgelöst wird und wie weitreichend die Betreuungspflichten im Punkt Nachhaltigkeit auszu­legen sind. Weitere Auslegungshinweise und Vorgaben der Aufsichtsorgane zu den laufenden Informations- und Beratungspflichten sind daher zwingend notwendig.

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