Bauen am Regelwerk

Engineer worker at wind turbine power station construction site

Bis zum Jahr 2050 will die Europäische Union klimaneutral sein. Kapital soll daher zunehmend in nachhaltige Anlagen strömen. Ein ganzes Gesetzespaket hat die EU dazu schon auf den Weg gebracht. Wichtige Definitionen fehlen aber noch

Weil der Klimawandel die Welt, wie wir sie kennen, bedroht, ist sich die Staatengemeinschaft weitgehend einig: Es muss etwas passieren, wir alle müssen ökologischer, sozialer und verantwortungsvoller handeln. Um hier einen Leitfaden zu haben, was das eigentlich genau bedeuten soll, haben 193 Staaten der Vereinten Nationen im September 2015 die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung auf die Beine gestellt. Im Kern geht es um 17 Nachhaltigkeitsziele, die sogenannten Sustainable Develop ment Goals oder kurz SDGs. Sie reichen von der Abschaffung von Armut über die Geschlechtergerechtigkeit bis hin zum Schutz der Meere (einen Überblick über diese Ziele finden Sie rechts).

Auch die Europäische Union (EU) macht Druck in Sachen Nachhaltigkeit. Bis 2050 soll die Staatengemeinschaft klimaneutral wirtschaften, hat sie in ihrem „Green Deal“ festgelegt. Schon bis 2030 soll mit dem EU-Maßnahmenpaket „Fit for 55“ der Ausstoß an Treibhausgasen um 55 Prozent gesenkt werden.

Im Zuge dessen soll auch das Investieren nachhaltiger werden. Im März 2018 hat die EU daher einen „Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ veröffentlicht. Er sieht als Ziele vor, Kapital in nachhaltige Projekte zu lenken, nachhaltiges Wachstum zu finanzieren, mehr Durchblick bei nachhaltigen Finanzprodukten zu schaffen und auch Umweltfaktoren, soziale Unruhen und so weiter stärker im Risikomanagement zu berücksichtigen.

Die Investitionen sollen vor allem die sogenannten ESG-Kriterien erfül­len. E steht dabei für Environment (Umwelt), S für Social (Soziales) und G für Governance (Unternehmensführung). Mehr Infos dazu, was das genau heißen kann, finden Sie auf Seite 26/27. Konkreter fasst der Staatenbund diese Ziele in der Transparenzverordnung (Offenlegungsverordnung oder „Sustainable Finance Disclosure Regulation“, kurz SFDR), der EU-Taxonomie und der Delegierten Verordnung (EU) 2021/1257.

Die EU-Taxonomie
Fangen wir mit der Taxonomie an. Ihr Ziel ist es, festzulegen, was Nachhaltigkeit denn genau bedeutet. Sie schafft also verbindliche Definitionen, was als nachhaltiges Wirtschaften gilt, und damit auch konkrete Anforderungen sowohl an Unternehmen als auch an Banken und deren Kapitalmarktprodukte. Für Investoren soll im End­effekt auf einen Blick erkennbar sein, wie nachhaltig ein bestimmtes Unternehmen wirtschaftet.

Diese Definitionen gibt es bisher vor allem im Bereich Umwelt (E). Eine Wirtschaftsaktivität gilt als konform mit der Taxonomie, wenn sie einen wesentlichen Beitrag zu mindestens einem der folgenden sechs Umweltziele leistet – ohne gleichzeitig Schaden bei einem anderen anzurichten: Verhinderung des Klimawandels, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung von Wasser- und Meeresressourcen, Wandel zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme. Außerdem müssen Unternehmen Mindestanforderungen in sozia­len Bereichen oder bei den Menschenrechten erfüllen.

Zwei Ziele sind bisher vorläufig ­ausformuliert: Verhinderung des Klimawandels und Anpassung an den Klimawandel.

Unstrittig ist dabei nicht immer, was die EU hier festlegt. So hat das Europäische Parlament im Juli 2022 Erdgas und Atomkraft zu nachhaltigen Energieformen nach der Taxonomie erklärt – einschränkend aber als Übergangstechnologien, wenn sie also zum Beispiel schmutzigere Kraftwerke ersetzen. Damit dürfen entsprechende Unternehmen in nachhaltigen Investmentfonds und anderen Produkten auftauchen und kommen leichter an Investorengeld. Diese Entscheidung trifft nicht überall auf Gegenliebe, zum Beispiel beim Bundesverband Finanzdienstleistung AfW. Dessen geschäftsführender Vorstand, Norman Wirth, sagt: „Wir halten das für einen indiskutablen Schritt in die völlig falsche Richtung und kontraproduktiv für die Akzeptanz regulatorischer Schritte hin zu mehr Nachhaltigkeit. Die Taxonomie verliert nachhaltig an Glaubwürdigkeit, wenn erkennbar interessens-, aber nicht wissenschaftsbasierte Entscheidungen zulasten unserer Kinder und nachfolgender Generationen getroffen werden.“

Atomkraft und Gas als „grün“ zu befürworten, stößt auch in der deutschen Versicherungswirtschaft auf breite Ablehnung. 78 Prozent der Versicherer stufen derartige Energiequellen als nicht-taxonomiekonform ein. Die Hälfte der Befragten lehnt die Einstufung sogar strikt ab, zeigt eine Studie des German Sustainability Network in Zusammenarbeit mit V.E.R.S. Leipzig.

In anderen Bereichen ist die Europäische Union noch nicht so weit. Eine Sozialtaxonomie ist derzeit in Arbeit – einen ersten, nicht verbindlichen Vorschlag hat die Expertengruppe der EU im Frühjahr 2022 veröffentlicht. Die Kernziele der Sozialtaxonomie sollen danach lauten: menschenwürdige Arbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette, angemessener Lebensstandard und Wohlergehen der Verbraucher sowie inklusive und nachhaltige Kommunen und Gesellschaften. Die Europäische Kommission muss sich nun mit dem Vorschlag befassen.

Die Transparenzverordnung
Die „Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor“, kurz Transparenzverordnung oder auch Offenlegungsverordnung genannt, verpflichtet Finanzmarktteilnehmer dazu, offenzulegen, wie sie Nachhaltigkeitsrisiken im Investmentprozess und in ihren Finanzprodukten berücksichtigen. Als Finanzmarktteilnehmer gelten dabei unter anderem Lebensversicherer, Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung oder Anbieter von Altersvorsorgeverträgen – und auch Finanzberater sind davon betroffen.


Unstrittig ist nicht immer, was die EU in der
Taxonomie als nachhaltig festlegt. Erdgas und Atomkraft zu nachhaltigen Energieformen
zu erklären, stößt nur auf wenig Gegenliebe

Nachhaltigkeitsrisiken sind Ereignisse oder Bedingungen in den Bereichen Umwelt, Soziales oder Unternehmensführung, die tatsächlich oder potenziell negative Auswirkungen auf den Wert einer Investition haben könnten. Dazu können Extremwetterereignisse genauso zählen, wie Reputationsrisiken oder politische Maßnahmen. Fondsprodukte müssen danach etwa in eine von drei Kategorien einsortiert werden: Sie sind entweder nicht wesentlich nachhaltig (Artikel 6). Oder sie berücksichtigen ökologische und soziale Kriterien (Artikel 8). Oder sie haben ein klar definiertes und messbares Nachhaltigkeitsziel (Artikel 9). Die technischen Regulierungsstandards (RTS), die festlegen, wie Finanzmarktteilnehmer und Finanzberater Informationen über Nachhaltigkeit von Produkten darlegen müssen, sind nun in Kraft getreten und ab 2023 anzuwenden. Anleger sollen durch diese geregelten Informationen Finanzprodukte besser in Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit vergleichen können.

Besonders relevant für Vermittler sind die Pflichten, die sich aus den Artikeln 3 bis 6 der Transparenzverordnung ergeben. Artikel 3 betrifft den Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken. Hier müssen Vermittler offenlegen, wie sie diese im Rahmen ihrer Beratung berücksichtigen. Artikel 4 verlangt Informationen darüber, ob und wie negative Auswirkungen des Investments auf die Umwelt und die anderen Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigt werden. In Artikel 5 geht es darum, wie die Vergütungspolitik des Vermittlers mit der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken in Einklang zu bringen ist. Ob er also selbst zum Beispiel eine höhere Provision erhält, wenn er nachhaltige oder nicht nachhaltige Produkte vertreibt. Die Artikel 3 bis 5 erfordern Veröffentlichungen auf der Website des Vermittlers. Artikel 6 der Offenlegungsverordnung betrifft die vorvertraglichen Informationen, die dem Kunden zu übermitteln sind.

Die Delegierte Verordnung 2021/1257
Besonders relevant für Vermittlerinnen und Vermittler ist die Delegierte Verordnung (EU) 2021/1257. Sie hat die EU-Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD (Insurance Distribution Directive) und die europäische Finanzmarktrichtlinie (Markets in Financial Instruments Directive II – Mifid II) angepasst. Eine Leitlinie der europäischen Versicherungsaufsicht Eiopa soll bei der praktischen Umsetzung helfen.
Die Neuerung: Seit dem 2. August 2022 müssen Versicherungsvermittler beim Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten Informationen über die Nachhaltigkeitspräferenzen von ihren Kunden erfragen und diese dann bei der vorzunehmenden Eignungsbeurteilung eines Produktes berücksichtigen. Knifflig dabei ist, dass die dafür wichtige Taxonomie eben, wie schon erwähnt, noch nicht vollständig ist. Die Erforschung der Nachhaltigkeitspräferenzen gilt auch (noch) nicht für Finanzanlagenvermittler. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hat aber bereits eine revidierende Aussage dazu gemacht – Finanzanlagenvermittler sollten sich also besser auch mit dem Thema befassen (mehr zum Thema Abfrage von Nachhaltigkeitspräferenzen lesen Sie auf den Seiten 28 ff., 82 ff. und 102 ff.).

Der Gesetzgebungsprozess rund um das Thema Nachhaltigkeit ist also in vollem Gange. Noch nicht alle Kriterien stehen fest. Bis volle Transparenz herrscht, wird es also wohl noch eine ganze Weile dauern.

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