Die Sehnsucht nach Standards

Businessman covering face on abstract background with scribble. Risk and confusion concept

Immer mehr Menschen wird Nachhaltigkeit bei ihren Finanzen und Versicherungen wichtig. Gleichzeitig sind sich viele unsicher, ob und wie nachhaltig Finanzprodukte überhaupt sein können. Die Antwort ist nicht einfach

Text Stephan Busch und Tom Wonneberger

Die Nachhaltigkeitspräferenzen sind abgefragt, der Kunde wünscht sich ein nachhaltiges Produkt. Und nun? Ganz einfach ist die Auswahl eines passenden Versicherungsproduktes für Vermittlerinnen und Vermittler nicht. Das große Problem ist, dass bisher noch niemand so genau sagen kann, ob und wann ein Produkt wirklich nachhaltig ist. Es gibt hier schlicht noch keine abschließenden Definitio­nen seitens der Europäischen Union. Erst ab 2024 wird es klarere Kriterien für Umwelt­aspekte auf EU-Ebene geben, bei den Sozial­aspekten wird es noch länger dauern. 

Insofern kann quasi jeder Anbieter sagen: Dieses und jenes Produkt ist nachhaltig. Vermittler und Kunde müssen dann jeweils schauen, was genau daran nachhaltig ist. Das macht den Vergleich unfassbar schwierig. 

Als Erstes muss man sich im Klaren sein, wo und wie Nachhaltigkeit wirken kann. Der für uns zentrale Aspekt ist der Impact oder Hebel. Also, wo entfaltet Nachhaltigkeit die größte Wirkung? Hierfür haben wir vier Ebenen identifiziert: Anbieter, Produkte, Beratung, Kunde. Die größte nachhaltige Wirkung hat ein nachhaltiger Anbieter (Versicherer, Bank, Kapitalanlagegesellschaft). So beträgt der Kapitalanlagebestand der deutschen Versicherer 1,7 Billionen Euro! Das entspricht etwa der halben Wirtschaftsleistung Deutschlands eines Jahres. 

Es wäre eine unglaubliche Wirkung, wenn dieses Geld nur in Nachhaltigkeit investiert würde. Die allermeisten Anbieter haben viele verschiedene Produkte in ihrem Portfolio. Wenige davon nachhaltig, die meisten konventionell. Die Produktebene hat also den nächst niedrigeren Wirkungsgrad. Denn ein solches Produkt (Girokonto, Hausratversicherung, Aktienfonds, private Rentenversicherung) schließen viele Menschen ab und zahlen Geld ein. Ein nachhaltiges Produkt kann also Wirkung in Millionen oder geringer Milliardenhöhe entfalten.

Die Finanzberatung ist die nächste Stufe. Eine Beraterin oder ein Berater erreicht oft viele Hundert Menschen. Das können Versicherungsnehmer, Kapitalanleger, Finanzierungskunden und so weiter sein. Die Wirkung geht also in den niedrigen Millionenbereich. Die kleinste Einheit ist der Kunde als Firma oder Selbstständiger und/oder als Privathaushalt. Die Wirkung kommt selten über einen sechsstelligen Bereich hinaus.

Damit Nachhaltigkeit also wirklich Wirkung erzielt, reicht es nicht, wenn der Kunde nachhaltig agiert. Es müssen vor allem die großen Flaggschiffe nachhaltiger werden. Diese Pyramide wirkt aber auch in die entgegengesetzte Richtung. So ist der Einfluss, den der Kunde ausübt, auf der kleinsten Stufe natürlich am größten. Er hat es in der Hand, wie nachhaltig er unterwegs bist. Der Berater wird mit den Wünschen konfrontiert und einem gewissen Nachfragedruck ausgesetzt. Wenn jeder Berater nachhaltiger wird und nachhaltige Finanzprodukte nachfragt, hat das größeres Gewicht. Damit hat jeder also mittelbaren Einfluss – und sollte ihn ausüben.

Vier Dimensionen auf Anbieterebene

Auf der Anbieterebene betrachten wir die Versicherer, Banken und Kapitalanlagegesellschaften. Es gibt vier Dimensionen, die entscheidend sind, damit (diese) Unternehmen Nachhaltigkeit effektiv verankern und umsetzen können. 

Wesentlichkeit

Unternehmen sollten her­ausfinden, wo sie wirklich große Auswirkungen haben und wo nicht. Das bedeutet, analytisch die wesentlichen Nachhaltigkeitsaspekte herauszuarbeiten. Beispiel: Änderung der Kapitalanlage statt einen Baum für einen Vertrag zu pflanzen.

Kompetenz

Um Nachhaltigkeit strategisch zu verankern und erfolgreich umzusetzen, braucht es Kompetenz. Die Mitarbeitenden müssen befähigt werden, Nachhaltigkeit zu verstehen und auszuführen. Ist dieses Wissen nicht im Unternehmen vorhanden, sollte es extern eingekauft werden.

Strategie

Für eine klare Orientierung und eine dauerhafte Verankerung im Unternehmen braucht es eine Nachhaltigkeitsstrategie. Eine Strategie benennt den Status quo und Ziele. Diese sollen durch glaubwürdige Maßnahmen erreicht werden. Es reicht eben nicht, auch Nachhaltigkeit irgendwie zu berücksichtigen. Sie muss integraler Unternehmensbestandteil sein.

Kultur

Letztendlich sind Unternehmen die Summe der dort arbeitenden Menschen. Erst wenn Nachhaltigkeit Teil der Gespräche, der persönlichen Ziele, der alltäglichen Arbeit und der Vision werden, kann sie dauerhaft gelebt werden. Stellen Sie sich eine Finanzfirma mit toller Nachhaltigkeitsstrategie vor, aber alle fahren mit dem Auto zur Arbeit oder bezahlen Männer und Frauen unterschiedlich. Das ist keine gelebte Nachhaltigkeitskultur! 

Versicherungsgedanke ist nachhaltig

Der Grundgedanke der Versicherung ist nachhaltig: Eine Versicherung ist eine Gemeinschaft, ein Kollektiv, in dem viele (die Versicherten) einen kleinen Beitrag einzahlen (Versicherungsprämie) und im Schadenfall jemand eine definierte Versicherungsleistung erhält. Es gilt also das Prinzip „Alle für einen“. Die Versicherung selbst übernimmt dabei die Funktion der zentralen Sammelstelle der Beiträge und Leistungen. 

Damit eine Versicherungsgesellschaft vollständig nachhaltig ist, muss sie drei Dimensionen berücksichtigen. Erstens, den nachhaltigen Betrieb. Das betrifft alles, was das Unternehmen macht und braucht, um überhaupt wirtschaften zu können. Das sind zum Beispiel ein grünes Gebäude als Firmensitz, ein reduzierter oder alternativ betriebener Fuhrpark und die aktive Förderung des öffentlichen Nahverkehrs, der faire Umgang mit Mitarbeitenden und Familienfreundlichkeit. 

Zweitens: die Kapitalanlage. Das dürfte der größte Hebel sein, schließlich geht es hier um Billionen Euro. Einerseits kann der Versicherer Negativ- oder Ausschlusskriterien definieren, also beispielsweise keine Investitionen in Rüstung, Gentechnik, Tierversuche oder Atomkraft zulassen. Andererseits oder ergänzend kann er eine Positivliste anwenden. Das sind Investitionen in erneuerbare Energien, ökologische Landwirtschaft, soziale Wirtschaft (Schulen, Seniorenheime, Krankenhäuser) oder fairen Handel. 

Als drittes Element kann eine nachhaltige Immobilienbewirtschaftung dienen. Schließlich sind Versicherer mit 62 Milliarden Euro (Stand 2021) große Immobilieneigentümer.

Und drittens: die Produkte. Auf Produkt-ebene tut sich derzeit am meisten. Das können höhere Erstattungen für nachhaltige/klimafreundliche Neuanschaffungen sein oder das Belohnen nachhaltigen Verhaltens seitens des Versicherten.

Hier ist es wichtig, zu wissen, dass die unterschiedlichen Versicherungssparten unterschiedliche Hebel haben, um Wirkungen zu entfalten. Die Wirkung von Sachversicherungen (Haftpflicht, Hausrat, Wohngebäude und so weiter) ist recht gering. Viel mehr als eine höhere Erstattung für nachhaltige/klimafreundliche Neuanschaffungen oder zertifizierte Dienstleister ist kaum möglich. Oder etwa die Pflanzung eines Baumes für neue Verträge. Kapital wird nahezu gar nicht angelegt, da das allermeiste gleich wieder für die Leistungen draufgeht. Die Wirkung einer „nachhaltigen“ Privathaftpflichtversicherung auf den ökologischen Fußabdruck des Kunden dürfte also minimal sein. 

Bei Biometrie- und Krankenversicherungsprodukten ist die Wirkung/Wesentlichkeit ebenfalls recht überschaubar. Ein Ansatz sind hier Zusatzleistungen wie Prävention, um die Gesundheit zu erhalten. Bei solchen Produkten legen die Versicherer jedoch nennenswert Kapital der Versicherten an. Wenn das nach nachhaltigen Grundsätzen erfolgt, erzielt der Kunde durchaus eine gewisse Wirkung.

Bei den Lebens- und Rentenversicherungsprodukten haben wir dann eine hohe Wirkung/Wesentlichkeit. Denn der Kern dieser Produkte ist die Anlage von Kapital. Sie erfüllen darüber hinaus ihrem Wesen nach bereits Aspekte der Nachhaltigkeit. Einerseits sollen sie Altersarmut verhindern oder reduzieren (was dem UN-Nachhaltigkeitsziel #1 entspricht). Andererseits müssen sie zumindest wirtschaftlich nachhaltig sein, da die Laufzeiten extrem lang sind. Wenn Kunden mit 30 Jahren einen Altersvorsorgevertrag abschließen, dürfen sie zu Recht erwarten, dass der Versicherer auch noch leistet, wenn der Kunde 95 Jahre alt ist, also 65 Jahre später. Hierin liegt ein fundamentaler Unterschied zu Bank- und Kapitalanlageprodukten.

Da es bisher noch keine klaren Begriffe oder eine vollständige Taxonomie gibt, kann es noch keine Negativ- oder Ausschlusskriterien geben. Wir haben jedoch einige Positivkriterien aufgestellt (siehe Seite 45). Wenn wir also die Wahl zwischen zwei Produkten haben, die ein ähnliches Preis-Leistungs-Profil aufweisen, würden wir uns für dasjenige entscheiden, das eines oder mehrere solcher Positivkriterien erfüllt. Umgekehrt haben wir auch definiert, was wir definitiv nicht als nachhaltig empfinden. Wenn Sie sich die Grafik auf Seite 42/43 anschauen, finden Sie da Anbieter und Produkte, die wir künftig ausschließen.

Nachhaltige Anlagemöglichkeiten

In der Kapitalanlage gibt es eine wesentlich größere Produktauswahl. Hier findet man viele verschiedene Begriffe wie „ESG“, „green“, „sustainability“, „climate“ und so weiter. Wichtig zu wissen ist, dass es unterschiedliche Ansätze gibt, die alle ihre Vor- und Nachteile haben (siehe Grafik rechts). Daneben gibt es noch die Einteilung von Fonds nach der EU-Verordnung 2019/2088: Artikel 6, graue Fonds: Das sind Fonds, die keine Nachhaltigkeitsziele anstreben. Derzeit noch die Mehrheit der am Markt verfügbaren Produkte. Artikel 8, hellgrüne Fonds: Diese Produkte berücksichtigen ökologische und soziale Aspekte. Sie machen etwa ein Fünftel des europäischen Marktes aus. Artikel 9, dunkelgrüne Fonds: Sie verfolgen ein nachhaltiges Anlageziel, tragen zum Beispiel dazu bei, dass die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen nicht verletzt werden. Die Fonds zeigen transparent ihre positive Nachhaltigkeitswirkung auf. Hierbei handelt es sich um knapp 4 Prozent der europäischen Fonds. 

Das hartnäckige Vorurteil

Ein hartnäckiges Vorurteil rund um grüne Produkte und im Speziellen Fonds betrifft ihre Rendite. Viele Menschen glauben, dass nachhaltige Geldanlagen weniger Rendite abwerfen als konventionelle. Dieses Vorurteil wurde aber bereits empirisch widerlegt und lässt sich auch logisch entkräften. 

Nachhaltige Unternehmen arbeiten ressourcenschonender und sind besser gegen Krisen gewappnet. Sie weisen eine höhere Kundenbindung auf und haben es oft leichter, neue Mitarbeitende zu gewinnen. Alles in allem sind nachhaltige(re) Unternehmen also betriebswirtschaftlich erfolgreicher. Da an der Börse die Gewinne der Zukunft gehandelt werden, ergibt sich daraus, dass solche Unternehmen bessere Börsenkurse erwarten lassen.

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